Cannabisleserbrief

„Cannabis – Bewusstseinentfremdung statt Bewusstseinserweiterung“

– Meine „Suche“ nach Bewusstseinserweiterung hielt mich davon ab, bewusst zu sein –

(Ursprünglich an die Zeitschrift „Connection” gerichteter Leserbrief, der unter der Überschrift „Die Droge und ich“ in „Homöopathie aktuell“ 1/93 erschien. Diese Überschrift stammte nicht von mir!)

Immer wieder findet in einschlägigen Publikationen eine einseitig positive Betrachtung des Drogenkonsums statt. In mir rührt sich Trauer und Wut, habe ich doch früher ähnlich argumentiert.

In diesen Artikeln werden die Wirkungen von Drogen als förderlich im Hinblick auf „Bewusstseinserweiterung“ dargestellt. Nirgendwo jedoch wird darauf hingewiesen, dass hierfür ein Preis zu zahlen ist, nämlich eine Beeinträchtigung des Prozesses der Gesundung, bzw. der Selbstwerdung, ggf. auch der Lebenstüchtigkeit, wie ich es heute ausdrücken würde.

Cannabis lernte ich mit 15 Jahren (heute bin ich 34) in einer „christlichen Kommune kennen – „Truth by Christ“ -. Mit 17 Jahren wurde Haschisch für mich Alltagsdroge, vom 19.-25. Lebensjahr rauchte ich noch gelegentlich bis selten. Die Auswirkungen dieses noch nicht einmal übermäßigen Konsums (wenn ich an Bekannte denke) wurde ich 1987/88 gewahr, als mein homöopathischer Arzt mir aufgrund der Ausprägung meiner aufgetretenen Psychose Cannabis in hochpotenzierter (verdünnter und verschüttelter) Form verabreichte.

Meine damals aktuelle Symptomatik war eine übersteigerte Wahrnehmungsintensivität, Empfindung nie geahnter Kraft, ungezügelter Drang zu denken, zu philosophieren, mich mitzuteilen, von meiner „Erleuchtung“ zu reden und schließlich die Empfindung, ich sei auserwählt zur Rettung der Welt, vielleicht sogar der wiedergeborene Jesus. Dies entsprach dem Arzneimittelbild, das für Cannabis in homöopathischer Dosis sprach.

Mit der Einnahme des potenzierten Cannabis begann für mich ein Ernüchterungsprozess, der mich gewahr werden ließ, was „Erdung“ heißt. Das Mittel zwang mich buchstäblich in die Knie. Zwei Tage lag ich flach. Unter Schmerzen fühlte ich, wie sich etwas aus meinen Knochen, vor allem den Kniegelenken löste. Parallel klärten sich meine Gedanken. Mir wurde nicht nur bewusst, wie „verrückt“ und abgehoben ich die vorangegangenen Wochen war – so schön sie auch gewesen waren -, vielmehr löste sich in mir eine Art, die Dinge der Welt zu sehen, wie sie mich fast fünfzehn Jahre wesentlich mitgeprägt hat. Ich sah die Welt mit anderen Augen.

Ich begann Abschied zu nehmen von dem Glauben, die Welt, die Menschen um mich herum besser machen zu können, den Sinn des Lebens erfassen und erklären zu können, gut und schlecht unterscheiden zu können, …zu können, …zu können. Ich begann die Alltäglichkeiten des Lebens neu zu gewichten. Und vor allem: mir wurde klar, wie sehr mich die Suche nach Bewusstseinserweiterung davon abgehalten hat, bewusst zu sein. So beobachtete meine damalige Lebensgefährtin, dass meine Motorik, der Bewegungsablauf meiner Gelenke an Normalität gewann und die von ihr immer mit Missbehagen verfolgte seltsame Ruckhaftigkeit verlor.

Haschisch hatte mich von mir fortgeführt, mich von meinem Leib und Leben entfremdet, mich in meinen Möglichkeiten, meinen Platz auf dieser Erde einzunehmen und zu behaupten, behindert. Das ist meine Wahrheit, die ich auf sehr schmerzhafte Weise erfuhr (ich diskutiere hier nicht die Frage „wer weiß, wozu es gut ist“).

Um mehr ich selbst zu werden, nahm mein altes Selbst Gestalt an, die Gestalt des offensichtlichen Wahnsinns. Ich lernte den durch Haschisch veränderten und geprägten Johannes kennen und durfte durch einen Prozess der Reinigung gehen, dank der Hilfe der klassische Homöopathie. Ich begann, mir selbst auf ganz neue, wenn auch schmerzhafte Art und Weise näher zu kommen und zu spüren, wie Wirklichkeit wirkt. „Wahrnehmen heißt leiden“ sagte Aristoteles und ich litt. Diesen Prozess möchte ich nicht missen.

Aufgrund dieser Erfahrungen und auch meines weiteren Lebensweges lehne ich heute den Gebrauch von Drogen ab. Es gibt andere Wege der Bewusstseinserweiterung, die einem sicherlich weniger Wirklichkeitsbewusstsein rauben. Mein Streben heute ist, im Leben zu leben, anstatt zu flüchten und zu „schweben“. Das gibt mir Frieden. Mag sein, das es ein Persönlichkeitsprofil gibt, das, wie behauptet, unanfällig für die Konsequenzen – den zu zahlenden Preis – des Drogenkonsums ist, durch die Brille des Betrachters. Ich maße mir nicht mehr an, einer dieser Auserwählten zu sein.

Ein Mensch mit dem Kopf in den (Haschisch-)Wolken hat keinen Boden unter den Füßen. Es sei denn er ist sehr groß (nach Alex Ignatius). Ich bin es nicht.

Johannes Socarto