Erleuchtung

„Wenn “Geist” überhaupt einen Sinn haben soll, dann muss er allgegenwärtig, alldurchdringend und allumfassend sein.“ (Ken Wilber)

Wenn es einen Ort geben würde, an dem der Geist nicht ist, dann wäre er nicht grenzenlos. Der Geist ist also auch eben hier und eben jetzt in unserem Bewusstsein vollkommen gegenwärtig. Das heißt: unser augenblicklicher Bewusstseinszustand, wie er gerade ist und ohne dass wir irgend etwas daran ändern müssten, ist in seiner Gesamtheit vollkommen vom Geist durchdrungen.

Es ist nun aber nicht so, dass der Geist zwar gegenwärtig ist, wir jedoch erleuchtet sein müssten, um ihn sehen zu können. Es ist nicht so, dass wir zwar eins sind mit dem Geist, es aber noch nicht wissen. Das würde ja bedeuten, dass es doch noch einen Ort gibt, wo der Geist nicht ist.

Nein, wir sind schon jetzt – schon immer – eins mit dem Geist und uns dessen auch bewusst. Wir schauen in jedem Augenblick mit dem Geist den Geist an. Einen Ort, wo der Geist nicht ist, gibt es nicht.

Es gibt auch keine Zeit, in der der Geist nicht wäre – der Geist ist ohne Anfang und Ende. Hätte er einen Anfang in der Zeit, dann wäre er nicht zeitlos und ewig. Daraus können wir schließen, dass wir Erleuchtung nicht erlangen können, sonst hätte dieser Bewusstseinszustand ja einen Anfang in der Zeit und wäre nicht wahre Erleuchtung.

Meditation, die sich darum bemüht, das Erkennen, das Gewahrsein zu ändern, ist demnach ebenso unnötig wie gegenstandslos. Der Geist ist voll und ganz präsent in dem Bewusstseinszustand, den wir jetzt gerade haben und nichts muss daran geändert werden. Der Versuch, Bewusstheit zu erlangen ist völlig sinnlos. Auf die Aussage: “Aber ich sehe den Geist immer noch nicht!” kann man nur antworten: “Du bist dir dessen bewusst, dass du den Geist nicht siehst, und eben diese Bewusstheit ist der Geist.”

Deshalb ist die grundlegende Bewusstheit nicht etwa schwer zu finden, sondern ganz im Gegenteil, es ist unmöglich, ihr zu entkommen. Es gibt nur das Sein, es gibt nur Gott.

Meditation ist aber auch durchaus wertvoll und wichtig, wenn es dabei um eine positive Geistesverfassung geht, wie Konzentration, Achtsamkeit und Einsicht zu entwickeln, und nicht um Erleuchtung zu erlangen – denn Erleuchtung, die erlangt werden kann, ist nicht Erleuchtung.

Wenn das Wiedererkennen des Geistes stattgefunden hat, dann wird es durch Meditation gefestigt und in alle Aspekte des Lebens eingearbeitet. Und das ist der eigentlich schwierige Teil. Das „Wahre Gesicht“ erkennen ist leicht, es zu leben ist schwer.

Zum Schluß ein Zitat von Ramana Maharshi:

“Die Menschen wollen die nackte und einfache Wahrheit nicht begreifen, die Wahrheit ihres alltäglichen, stets gegenwärtigen und ewigen Gewahrseins. Das ist die Wahrheit des Selbst. Ist da auch nur einer ohne Gewahrsein des Selbst? Aber sie wollen das nicht einmal hören, sind vielmehr ganz begierig zu wissen, was jenseits liegt – Himmel und Hölle und Reinkarnation. Weil sie das geheimnisvoll Verborgene und nicht die offen daliegende Wahrheit lieben, gibt die Religion ihnen nach – um sie am Ende doch zum Selbst zu führen. Soviel du auch wandern magst, du musst schließlich doch zum Selbst zurückkehren, warum also nicht hier und jetzt im Selbst verweilen?”

(Zu diesem Text hat mich der Passus über die Dzogchen Praxis im tibetischen Buddhismus in Ken Wilber: „Mut und Gnade“, 1996, S. 403 – 407 inspiriert)
Joachim Busse (2006)