Nahtod-Erfahrungen

Häufig werden so genannte Nahtod-Erfahrungen als glückselig machende Erlebnisse beschrieben, die meist eine tiefgreifende positive Neubewertung der eigenen Lebensidee nach sich ziehen. Die großen existentiellen Fragen werden beantwortet und man bekommt endlich seinen Platz im Leben, im Sinne einer Bedeutung. Scheinbar, denn für sehr viele Menschen, die eine außergewöhnliche Bewusstseinserfahrung im Rahmen einer realen oder drohenden existenzgefährdeten  Situation erleben, ist die Folge eine spirituelle Krise.

Eine Nahtod-Erfahrung (NTE) ist ein passives Ereignis. Im Gegensatz zu herausgeforderten außeralltäglichen Erfahrungen, kommen sie unerwartet und unvorbereitet. NTE´s erleben nicht nur Menschen, die sich sowieso mit der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigen oder auf der Suche nach sich selbst sind. Es kann sozusagen jeden treffen. Es sind plötzliche, mystische Erlebnisse, mit paranormalem Charakter. Das Leben erscheint dann sprichwörtlich in einem neuen Licht, alles bisher Dagewesene wird in Frage gestellt.

Formen von Nahtod-Erfahrungen

Meist sind es bewusste Erlebnisse. Es kann aber auch vorkommen, dass sie zunächst nicht als solche erkannt werden. So können Nahtod-Erfahrungen genauso gut unbewusst erlebt und tiefgreifende Veränderungen im Leben keiner Ursache zugeordnet werden.

Nahtod-Erfahrungen kommen aber nicht ausschließlich in lebensbedrohenden Situationen vor. Elemente die die wissenschaftliche Forschung in den letzten Jahrzehnten herauskristallisiert hat, finden wir genauso während außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen anderer Natur und Ursache, wie meditativen Erlebnissen, religiösen Visionen oder auch im Rahmen spiritueller Praktiken traditioneller und nativer Religionen.

Und sie können auch spontan auftreten, außerhalb jeglicher erkennbaren existenzbedrohenden Situationen. So wird beispielsweise das so genannte Lebenspanorama auch von Menschen geschildert, die sich in einem scheinbar existentiell ungefährdeten Zustand befanden.

Neben positiven Nahtod-Erfahrungen, gibt es auch ein negatives Erleben, was zwar relativ selten, aber dennoch vorkommt. Weshalb manche Menschen diese wiederfahren, ist heute noch nicht sicher zu sagen.

Umgang mit Nahtod-Erfahrungen

Das Interesse an Nahtod-Erfahrungen wächst stetig. Dies hat sehr unterschiedliche Gründe, zumal wir heute in den Medien den Tod permanent vor Augen haben. Menschen die keine NTE erlebten, suchen vor allen Dingen Trost in Nahtod-Berichten und sehen in ihnen eine Möglichkeit,  ihrer Angst vor dem Tod zu begegnen und sich mit ihr auseinanderzusetzen

Nahtod-Erfahrene sprechen in aller Regel nicht gerne über ihre Erlebnisse. Viele haben Angst vor den Reaktionen ihres Umfeldes. Manchmal wird noch nicht einmal der Lebenspartner eingeweiht, trotz offensichtlicher denkwürdiger Veränderungen im Alltag. Dies kann bis dahin gehen, das Partnerschaften aufgelöst werden, weil sowohl beim Erlebenden selbst, als auch beim Partner, kein Sinn mehr im zusammen Leben gesehen wird oder die Bedeutung der Beziehung an Wert verliert. Viele Ängste machen sich breit, was bis zur Depression führen kann, Orientierungslosigkeit in der „hiesigen“ Welt oder Begegnungen während der Erfahrung werden pathologisiert. Werden NTE´s nicht bewusst wahrgenommen, wird sich nicht an dieses Erlebnis erinnert und kommt es insgesamt nicht zu einem Integrationsprozess, können destruktive soziale und gesellschaftliche Konsequenzen die Folge sein.

Die spirituelle Krise als Konsequenz einer Nahtod-Erfahrung

Von spirituellen Krisen auf Grund einer Nahtod-Erfahrung  ist in der Literatur wenig die Rede. Dies hat womöglich damit zu tun, dass sie häufig positiv vom Sterben und Tod berichten, einem Prozess und  Zustand, von denen wir uns  aus  Mangel an Kenntnissen fürchten. Dagegen zeigt sich in der Praxis und in Gesprächen mit Nahtod-Erfahrenen, dass eine Krise als Folge eines solchen Erlebens sehr häufig vorkommt. Beginnend mit einem Gefühl des anders- und ausgegrenzt-seins, über eine Verständnislosigkeit gesellschaftlichen und sozialen Handelns des Umfelds, bis zur Angst „verrückt“ zu werden, oder gar zu sein.

Die Konsequenzen können sehr weitreichend sein. Dabei geht es gar nicht so sehr um das Erlebnis an sich. Wenn auch manchmal verstörend, wird ein Nahtod-Erlebnis an sich meist als angenehm und außerordentlich friedlich wahrgenommen. Erst wenn man sich wieder in seinem alltäglichen Rahmen orientieren muss, treten die Schwierigkeiten auf. Die wenigsten scheinen überhaupt darüber zu sprechen und wenn, dann mit einer sicherlich gebotenen Zurückhaltung.

Nahtod-Erfahrene leben plötzlich mit einem veränderten Wertesystem. Was gestern noch gut und richtig war, ist heute belanglos und nichtig. Sie finden sich ad hoc in einer Welt wieder, die sie mit anderen Augen sehen. Grenzen und Bedingungen, an denen man sich orientierte, sind nicht mehr vorhanden. Das Leben muss völlig neu sortiert werden. Das Dasein bekommt einen anderen Sinn, der womöglich nicht mehr mit der Umgebung, in der man lebt, kompatibel ist.

Das Leben unterliegt wissenschaftlich, politisch, sozial und gesellschaftlich einer gewissen Ordnung. Diese Ordnung scheint nicht mehr zu gelten. Größere Zusammenhänge werden erlebt, Sinnfragen beantwortet und Lebensaufgaben werden wahrgenommen. Dabei stellen sich aber auch neue Fragen, die bislang noch wenig Akzeptanz besitzen. Es sind Fragen nach dem Bewusstsein, nach einem Leben nach dem Tode oder was für eine existentielle Rolle das erlebte Licht im Leben spielt.

Austauschmöglichkeiten

Es macht Sinn, Menschen, die außeralltägliche Bewusstseinserlebnisse hatten, einen Rahmen zu bieten, innerhalb dessen sie sich austauschen können, wo sie Verständnis finden und Hilfe, sich wieder im Leben zurechtzufinden. Und es macht Sinn, sich für die Hintergründe tiefgreifender Veränderungen von Menschen zu interessieren, ob nicht doch etwas erlebt, was „vergessen“ oder nicht kommuniziert wurde.

(c) Gerald F. Rubisch, 2011