Die Entwicklung des Zeugenbewusstseins

von Hartwig Kopp-Delaney (2006)

Es gibt das Zeugenbewusstsein und jeder kann es entwickeln. Doch wenn wir das Zeugenbewusstsein erst noch entwickeln wollen, was ist dann unsere Ausgangsbasis? Wir müssen also erst einmal eine gewisse Vorstellung davon gewinnen, was diese Basis, das heißt, unser normales Ego-Bewusstsein ist. Beginnen wir also mit ein wenig Praxis und durchmischen sie mit ein wenig Theorie.

Der Begriff des Zeugenbewusstseins wird in vielen meditativen Schulrichtungen verwendet. Wir finden ihn im Christentum ebenso wie im Buddhismus, im Sufismus wie auch im Hinduismus. Es wird mit ihm eine bestimmte Verfassung des Bewusstseins umschrieben, der wir uns jetzt einmal in einer Umschreibung annähern wollen.

Sobald Sie die Augen schließen und die visuellen Ablenkungen verschwunden sind, werden Sie Ihren Geist beobachten können. Sie werden ein ganz munteres Geplauder verschiedener Stimmen (Aspekte Ihrer selbst) hören. Nicht akustisch, vielmehr als gedachte Worte. Sie nehmen  jenes typische Phänomen wahr, das mit den Worten „innerer Dialog“ umschrieben wird: Die eine Stimme will dies, die andere das, und eine andere wiederum ist dagegen…

Zwischendurch springen kleine Fetzen von Erinnerungsbildern hin und her. Man „sieht“ beispielsweise den Gemüsestand vom Wochenmarkt, den man Vortags besuchte und hat plötzlich das Bild der attraktiven Verkäuferin im Kopf, man erinnert sich an ihr Lächeln… Doch unvermittelt rutscht der Termin mit der Autowerkstatt da hinein und man spürt innerlich einen richtigen Groll, denn man fährt wegen der gleichen Sache zum dritten Mal dorthin…

Das sind unsere Gedanken. So funktioniert es in unserem Kopf, sobald wir unsere Aufmerksamkeit entspannen und uns nicht auf eine Aufgabe oder ein Thema konzentrieren.

Wenn ich von unserem alltäglichen Bewusstseinszustand spreche, dann meine ich genau das. Die „Stimmen“ in unserem Hirn sind autonom, plappern unablässig und widersprechen sich zudem ständig. Da wären wir schon bei dem nächsten typischen Phänomen unseres Geistes: Wir denken und fühlen widersprüchlich. In unserem Innersten sind wir uneins mit uns selbst. Einige Menschen sind ein ganz wenig im Zweifel, andere geradezu zerrissen.

Jeder kennt in sich die eine Stimme, die da sagt: „Wenn ich mir das jetzt nicht kaufe, dann verpasse ich die Gelegenheit und ärgere mich nachher.“ Die andere hält dagegen: „Wenn ich mir das jetzt kaufe bin ich am Ende des Geldes für den langen Rest des Monat.“ Und dann gehen wir weiter und drehen uns nach zehn Schritten doch wieder um. Vielleicht lächeln wir sogar. Ok. Das Gefühl hat gesiegt. Das Jackett wird gekauft, bezahlt und die Trophäe zum Auto geschleppt. Doch die Freude währt nur kurz, denn beim Rückwärtssetzen fährt man sich ein kleines Beulchen an den Kofferraum.

Das Bewusstsein wird überflutet mit heftigen Emotionen und auf dem Heimweg setzt die Selbstzerfleischung erstmal richtig ein. Musste das jetzt wieder sein? Hätte man nicht doch besser auf seine Vernunft gehört? Wie es der Partnerin beichten? Sie ist in letzter Zeit so gereizt… Die Schuldgefühle und die Angst schlagen auf den Magen. Und das alles nur, weil man seinem Impuls nachgegeben hat, verdammt! Jetzt macht das Jackett keinen Spaß mehr. Man ist wütend auf sich selbst.

Ich habe Ihnen hiermit den ganz normalen Ego-Zustand beschrieben. Nun setzen wir uns einmal zusammen hin, beruhigen den Geist und nennen das ganz einfach Entspannungsübung. Ein Stuhl, ein Sessel, egal wo Sie sitzen, Hauptsache ruhig sollte es für die nächsten zehn Minuten sein, denn ich möchte Ihnen vermitteln, was das Zeugenbewusstsein ist.

Tun Sie, was Sie sonst auch tun, das heißt lassen Sie Ihren Gedanken einfach freien Lauf und beobachten Sie diese. Sie Bemerken, dass sie an das Thema X denken und bemerken auch den Wechsel zum Thema Y und dann das nächste. Das aber, was nun ihre Gedanken beobachtet, das ist der Beobachter, allerdings der wertende Beobachter. Er mischt sich in alle Gedanken und Impulse ein, erwägt diesen oder jenen, verwirft, kategorisiert und so weiter. Man könnte das als „kritisches Bewusstsein“ bezeichnen. Verschiedene Wünsche, Hoffnungen, Pläne etc. tauchen auf und der innere Kritiker bewertet sie.

Dieser im Verlauf der Vergeistigung (Verkopfung – Intellektualisierung) immer deutlicher hervor tretende Kritiker macht uns zunehmend das Leben schwer, denn er lässt nichts aus. Anfangs kritisiert er nur andere im Außen. Doch schließlich wendet er sich in Form von Selbstkritik gegen die eigenen Handlungen und Gedanken und wird zu einer wirklichen Mühsal.

Und dennoch, dieser Kritiker ist die Vorstufe des Zeugenbewusstseins. Vorstufe darum, weil das Zeugenbewusstsein keine kritische Aufmerksamkeit mehr sondern den Zustand der Neutralität erreicht hat. Neutrale, nicht wertende Aufmerksamkeit, das ist das Zeugenbewusstsein. Man sieht, fühlt, schmeckt, registriert, doch man wertet nicht. Der Kritiker hat Pause und es bleibt nur die nicht wertende Aufmerksamkeit übrig.

Theoretisch ist das, glaube ich, ganz leicht zu verstehen: Wir essen ein Stück Kuchen, es schmeckt, aber nur das. Der Geist analysiert nicht wonach. Er bedenkt auch nicht die Rezeptur und er ist auch nicht mit einem Blick auf die Zeitung beschäftigt, nichts dergleichen. Der Kuchen ist im Mund, er wird gekaut und er schmeckt. Doch das Schmecken wird nicht bewertet. Es ist ein Schmecken wie das eines Kindes, das die Babynahrung gierig aufnimmt, weil sie ihm schmeckt, und nicht weil es weiß, dass es dieser oder jener Brei ist, geschweige die Marke des Herstellers. Das Kind ist mit allen Sinnen und seiner ganzen Aufmerksamkeit beim Schmecken und das ist auch der Grund dafür, warum es den Kindern wirklich so intensiv und sinnlich schmeckt.

Das Kind aber weiß natürlich nicht, dass es sich in einem begnadeten Zustand, nämlich in dem der Nicht-Wertung befindet. Jenen, die meditieren, ist dieser Bewusstseinszustand ihr neues Ziel und doch ein „alter“ (verlorener) Zustand.

Wir wollen also vorerst unseren denkenden, analysierenden und ständig kommentierenden Geist beruhigen. Und die erste Stufe beginnt damit, dass man sich hinsetzt und alles beobachtet, was da im Geist so abgeht. Natürlich werden die Alltagskonflikte und die Probleme hochgespült.

Dann folgt die Stufe, in der man die Wurzeln jener Probleme angeht, die dafür sorgen, dass der Quell der unerfreulichen und schließlich der angenehmen Gedanken einfach nicht abreißt. Da ist vielleicht die Beziehung, die gerade in die Brüche geht oder der Wohnungswechsel, der seit Monaten aufgeschoben wird. Selbst wenn man richtig verliebt ist und nur den Anderen im Kopf hat, ist der Geist nicht im Hier und Jetzt sondern mit einem inneren Film beschäftigt. Ein derartiger Geist ist abgelenkt, undiszipliniert.

Es ist leider so, mit einem riesigen Haufen ungelöster Probleme im Kopf kann man nicht erwarten, dass ein Fingerschnippen in den erlösten Zustand des Zeugenbewusstseins führt. Es ist nicht so, dass man denken oder auch nicht denken kann was und wie man will. Mit dem Willen kommt man an den Bewusstseinszustand des Zeugen nicht heran, man muss ihn sich erarbeiten, indem man die Konfliktpunkte und die Quelle der Störgedanken und der Störgefühle in angemessenem Tempo löst.

Ein häufig versuchter Trick: Deckel auf die Probleme und dann ab in die Freiheit des Geistes, scheitert. Es folgt also die Phase der Bearbeitung der persönlichen Probleme und damit schließlich eine Beruhigung der äußeren Störfaktoren. Das dauert gewöhnlich seine Zeit, Monate, meistens einige Jahre. Und dann, wenn man tatsächlich in die Stille des Geistes fällt, wenn einen das Aufblitzen der Leere und die gleichzeitige Freude des ersten vollkommen gedankenfreien Augenblicks überrascht, erinnert man sich vielleicht im Nachhinein wie man als Kind den Kopf in den Nacken legte und einen vereisten Winterapfel am Baume in der untergehenden Sonne glitzern sah. Ohne Worte.

Da ist es, das namenlose Staunen. Reine Beobachtung. Keine Wertung. Das Bewusstsein denkt nicht während es etwas wahrnimmt. Natürlich nimmt es den Apfel wahr und so weiter, doch der Denkapparat ist offline. Natürlich ist aus einer noch einmal höheren Perspektive betrachtet der Geist „noch“ mit der „Erfindung“ eines Apfels und der eines Wahrnehmenden beschäftigt, doch die Analyse dieses Zustandes geht in den Bereich des metasphärischen Bewusstseins in dem sich alle Wahrnehmungen bereits als „Traumgebilde“ entpuppen weil nur noch Energiefelder schwingen in der Art, wie man das in Science Fiktion Serien sehen kann, wenn ein Mensch auf ein Raumschiff gebeamt wird.

Das Zeugenbewusstsein kann auch diese „phantastischen“ Zustände wahrnehmen, doch das „alltägliche“ Zeugenbewusstsein findet noch „bodenständig“ und in diesem Dasein statt, ganz im Hier und Jetzt. Das heißt auf dem Wochenmarkt, im Kino, während des Liebesaktes oder in einem Gespräch das mit vollkommener Aufmerksamkeit geführt wird.

Doch alles beginnt mit der Selbstbeobachtung während des Sitzens in meditativer Stille. Die Aufmerksamkeit nimmt wahr, dass sich der Geist bestimmte Gedankenbilder spinnt, doch sie identifiziert sich nicht mit der Geschichte, lässt sich nicht von ihr ködern. Der Zeuge hält keinen Gedankensplitter an unter dem Motto: Ach ja, der Wochenmarkt… und spinnt daraus eine nette Geschichte.

Das unkontrollierte, alltägliche Bewusstsein lässt sich allerdings einfangen und lächelt der – in seiner Vorstellung – sehr attraktiv wirkenden Marktfrau zu und stellt sich vor, was wohl geschähe, wenn man den Mut gehabt hätte, sie anzusprechen und und und… Vielleicht wird die Geschichte erotisch und ein männlicher Denker wird bemerken, dass ein reines Gedankenkonstrukt einen interessanten Einfluss auf eine Körpergegend hat, die wir mit dem Gott Eros in Verbindung bringen.

Die Gedanken, die wir in unserem Kopf zulassen, beeinflussen unsere Physis. Wenn wir nun einmal schauen, was wir so an negativen Gedanken und ohne jede Aufmerksamkeit in unserem Kopf hätscheln und tätscheln, dann sollten wir uns nicht wundern, dass wir dunkle Ringe unter die Augen bekommen. Daher ist es m. E. von sehr großer Bedeutung, dass wir uns einer Selbsterforschung widmen und einer Geistesschulung unterziehen. Auf diese Weise wird uns die Möglichkeit eröffnet, eine gewisse Beeinflussung unsers Denkens vorzunehmen. An dem Beispiel mit dem Eros dürfte klar sein, wie leicht das gehen kann, wenn man das Prinzip erst einmal verstanden hat.

Auf diese imaginative Weise ist es möglich, sich hilfreiche Vorstellungen im Geist zu erschaffen. Egal ob man sich einen christlichen Heiligen und dessen Energie vorstellt oder die emotionale Qualität eines Engels, die geistige Frequenz eines transzendenten Buddhas oder was auch immer. Sobald ich mir bewusst darüber werde, dass vorgestellte Bilder eine Wirkung haben, kann ich das Prinzip für die Beruhigung des Geistes, für die tiefere Meditation und die Entwicklung des Zeugenbewusstseins anwenden.

Hat man mit einiger Übung diesen Zustand erreicht, beginnen der Ausbau und die Pflege dieses vom zwiegespaltenen Denken befreiten, des „störungsfreien“ Bewusstseins.

Wir erinnern uns an den Anfang dieses Aufsatzes: Das normale Alltagsbewusstsein ist vom Mechanismus des Zergliederns, Trennens, Kritisierens ergriffen und findet ohne entsprechende Selbsterforschung kein Ende. Aus diesem inneren Zerrissensein fließt sehr viel Leid. Doch dieses Leid kann beendet werden, indem das Ich-Bewusstsein nach einem Zustand zu streben beginnt, um den es anfangs nur vom Sagenhören weiß. So sei es noch einmal gesagt: Es gibt das Zeugenbewusstsein und jeder kann es entwickeln.